
Viele Häuser könnten im nächsten Winter unter der Schneelast zusammenbrechen, zerborstene Scheiben, zerbrochene Treppen, verwittertes Holz. Der Lack ist abgeblättert, die Farben verwaschen, das Wellblech verzogen, der Verfall allgegenwärtig. Die einst bestimmt sehr hübschen Häuser wirken wie Gespenster aus der Vergangenheit. Sie sind ein wenig gruselig, scheinen mich mit ihren traurigen leeren Fensteraugen zu verfolgen und halten mich warnend auf Distanz. „Komm mir bloß nicht zu nahe, schon gar nicht rein“ raunen sie mir ins Ohr. Warum denke ich bloß immer wieder an dieses Haus im Film Psycho?
Paranoia oder Depression?
Kaum zu glauben, dass man hier anders sein kann als depressiv. Kaum zu glauben, dass man hier nicht jede Nacht von Alpträumen heimgesucht wird. Kaum zu glauben, dass es entlang der einzigen Hauptstraße, die unscheinbar von dem Brachland abgeht, irgendwo Restaurants, eine Kirche, ein Museum, kleine Geschäfte, ein Postamt, ein Hotel mit Bar und ein öffentliches Schwimmbad gibt. Sogar ein kleines russisches Konsulat. Menschen trifft man jedoch selten am Tag. Kein Wunder, denn sie arbeiten ja auch noch heute zumeist unter Tage. Doch es gibt sie. Wirklich. Sogar Kinder und eine Schule.
Die Kohlevorkommen sind weitestgehend erschöpft. Wirtschaftlich geht’s Barentsburg mehr als mies. Woher bloß neue Kohle kriegen? Die zeitgeistige Antwort lautet Touristen. Das scheinbare Allheilmittel für überall. Der verfallene Grubenort mit seiner großartigen Tristesse soll nicht nur für die klassischen drei-Stunden-Ausflügler interessanter werden, sondern auch für länger. Am besten gleich für ein paar dieser unendlich erscheinenden 24-Stunden-Tage im nordpolaren Sommer. Also dann, wenn unsere innere Uhr ins Trudeln gerät. Weil wir nicht mehr wie gewohnt einschlafen können. Weil das Düstere nicht im Dunkeln verschwindet, sondern immer erhellt ist. Weil sich sämtliche Nächte auf die andere Seite unserer Erde zurückgezogen haben. Den meisten wäre das sicher zu viel: zu viel Tag und zu viel des Verlorenen. Und sei es auch nur Schlaf.
Bis zum nächsten Ort muss man im Sommer drei Tage wandern. Verbindungsstraßen gibt es keine. Hubschrauber, Schiff oder Schneemobil sind die einzigen Optionen, um hier her oder aber wieder von hier weg zu kommen. Was die meisten Tagesgäste übrigens auch sehr gerne tun. Drei Stunden Zeit reicht ihnen locker. Gesehen und weg.
Lichtblicke inklusive.
Ich hatte zum Glück ein wenig mehr Zeit. Ja, ich habe wirklich Glück geschrieben. Denn manchmal riß die Wolkendecke auf, vereinzelte Lichtstrahlen erkämpften sich ihren Weg auf die Erde und das Wasser. Sie gaben dem Morbiden einen Hauch Noblesse, schenkten dem Ort einen Hoffnungsschimmer Lebendigkeit und mir das Gefühl, dass Schaurig-Schönes zwar nicht tröstet, aber die Lebenskräfte stärken kann. Zumindest nach ein paar mehr Stunden als drei, vielleicht sogar noch mehr nach drei, vier Tagen. Wer weiß. Die rund 400 Seelen, die hier leben, sind nicht unzufriedener als anderswo. Und ein Hotspot für Psychotherapeuten ist Barentsburg auch nicht.
Barentsburg ist und bleibt ein abwegiger Ort im wahren Wortsinn. Doch wer – wie all die Bergleute – in eine abgründige Tiefe hinabsteigen und auch wieder hinaufsteigen kann (statt Mutter Erde nehme man die eigene Seele), der kann hier durchaus mehr als Abgeschiedenheit und Ruhe finden. Ich spürte eine innere Kraft, die aus Werden und Vergehen beständig neues Leben erschafft. Ob das bereits ein Marketing-Ansatz sein könnte? Oder hat mich Barentsburg nun auch abwegig gemacht?