30. August 2020
Text und Fotos: Copyright Petra Clamer

Ab-wegig im wahren Wortsinn: Barentsburg.

Dicke, tiefliegende Wolken und spontan-schwermütige Gedanken verdüstern die Aussicht auf den Ijsfjord mit seinen Gletschern. Übrig bleiben Beton, Geröll, windschiefe Ruinen und bunte Plattenbaufassaden, die das arktische Ton-in-Ton Grau irgendwie auch nicht fröhlicher erscheinen lassen. 

Knapp 300 Stufen sind es vom Anleger mitten hinein in das Örtchen Barentsburg, der russischen Bergarbeitersiedlung mit Polarstation auf Spitzbergen. Rund 12 Breitengrade südlich vom Nordpol, vier Monate Nacht und auch nicht sonderlich einladend, wenn die Sonne im Sommer für 24 Stunden nicht untergeht.

Der erste Eindruck: skurril. Man sollte sich wappnen. Mit einem dicken Fell rund um die Seele – das Pendant zum Anorak für den Körper. Selbst wenn der Himmel quietscheblau ist und die Fernsicht majestätische Panoramen präsentiert, kann man sich schnell verloren fühlen. Nicht klein im Angesicht der erhabenen Natur, nicht unbedeutend oder vergänglich, sondern einfach nur verloren.  

Kein Ortskern als Ortskern.

Mittelpunkt des Örtchens ist eine große, weite unbebaute Fläche. Brachland mit ein paar Bänken, spärlichem Grün, einigen Steinbrocken, nackter Erde und einer Büste auf einem Sockel. Sie zeigt Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin. Lenin guckt gewohnt grimmig, wie er es als Statue gerne mal tut. Wenn er wüsste, dass er das beliebteste Fotomotiv von Barentsburg geworden ist, würde er sicher noch böser dreinschauen. Es wäre sicher nicht sein Ding, eine kleine Erinnerungsdatei auf den Speicherkarten des ehemaligen Klassenfeindes zu sein, ein illustrer Hintergrund für Grüppchen, die mit teuren Fleece- und Daunenjacken vor ihm lachend-munter posieren.

Aber so ist es nun mal mit dem Zahn der Zeit. Er nagt so lange am Heutigen bis es als Vergangen verdaut ist. Was davon übrig bleibt, weiß man erst später und nennt es dann Geschichte. Das Örtchen baut schon länger ab, zuerst Kohle, dann Einwohner. Nur noch wenige hundert Menschen leben beständig hier. Wenn größere kleine Kreuzfahrtschiffe in Barentsburg anlegen, verdoppelt sich daher glatt die Anzahl der Menschenseelen. 

Viele Häuser könnten im nächsten Winter unter der Schneelast zusammenbrechen, zerborstene Scheiben, zerbrochene Treppen, verwittertes Holz. Der Lack ist abgeblättert, die Farben verwaschen, das Wellblech verzogen, der Verfall allgegenwärtig. Die einst bestimmt sehr hübschen Häuser wirken wie Gespenster aus der Vergangenheit. Sie sind ein wenig gruselig, scheinen mich mit ihren traurigen leeren Fensteraugen zu verfolgen und halten mich warnend auf Distanz. „Komm mir bloß nicht zu nahe, schon gar nicht rein“ raunen sie mir ins Ohr. Warum denke ich bloß immer wieder an dieses Haus im Film Psycho? 



Paranoia oder Depression?



Kaum zu glauben, dass man hier anders sein kann als depressiv. Kaum zu glauben, dass man hier nicht jede Nacht von Alpträumen heimgesucht wird. Kaum zu glauben, dass es entlang der einzigen Hauptstraße, die unscheinbar von dem Brachland abgeht, irgendwo Restaurants, eine Kirche, ein Museum, kleine Geschäfte, ein Postamt, ein Hotel mit Bar und ein öffentliches Schwimmbad gibt. Sogar ein kleines russisches Konsulat. Menschen trifft man jedoch selten am Tag. Kein Wunder, denn sie arbeiten ja auch noch heute zumeist unter Tage. Doch es gibt sie. Wirklich. Sogar Kinder und eine Schule. 



Die Kohlevorkommen sind weitestgehend erschöpft. Wirtschaftlich geht’s Barentsburg mehr als mies. Woher bloß neue Kohle kriegen? Die zeitgeistige Antwort lautet Touristen. Das scheinbare Allheilmittel für überall. Der verfallene Grubenort mit seiner großartigen Tristesse soll nicht nur für die klassischen drei-Stunden-Ausflügler interessanter werden, sondern auch für länger. Am besten gleich für ein paar dieser unendlich erscheinenden 24-Stunden-Tage im nordpolaren Sommer. Also dann, wenn unsere innere Uhr ins Trudeln gerät. Weil wir nicht mehr wie gewohnt einschlafen können. Weil das Düstere nicht im Dunkeln verschwindet, sondern immer erhellt ist. Weil sich sämtliche Nächte auf die andere Seite unserer Erde zurückgezogen haben. Den meisten wäre das sicher zu viel: zu viel Tag und zu viel des Verlorenen. Und sei es auch nur Schlaf.

Bis zum nächsten Ort muss man im Sommer drei Tage wandern. Verbindungsstraßen gibt es keine. Hubschrauber, Schiff oder Schneemobil sind die einzigen Optionen, um hier her oder aber wieder von hier weg zu kommen. Was die meisten Tagesgäste übrigens auch sehr gerne tun. Drei Stunden Zeit reicht ihnen locker. Gesehen und weg.



Lichtblicke inklusive.



Ich hatte zum Glück ein wenig mehr Zeit. Ja, ich habe wirklich Glück geschrieben. Denn manchmal riß die Wolkendecke auf, vereinzelte Lichtstrahlen erkämpften sich ihren Weg auf die Erde und das Wasser. Sie gaben dem Morbiden einen Hauch Noblesse, schenkten dem Ort einen Hoffnungsschimmer Lebendigkeit und mir das Gefühl, dass Schaurig-Schönes zwar nicht tröstet, aber die Lebenskräfte stärken kann. Zumindest nach ein paar mehr Stunden als drei, vielleicht sogar noch mehr nach drei, vier Tagen. Wer weiß. Die rund 400 Seelen, die hier leben, sind nicht unzufriedener als anderswo. Und ein Hotspot für Psychotherapeuten ist Barentsburg auch nicht. 



Barentsburg ist und bleibt ein abwegiger Ort im wahren Wortsinn. Doch wer – wie all die Bergleute – in eine abgründige Tiefe hinabsteigen und auch wieder hinaufsteigen kann (statt Mutter Erde nehme man die eigene Seele), der kann hier durchaus mehr als Abgeschiedenheit und Ruhe finden. Ich spürte eine innere Kraft, die aus Werden und Vergehen beständig neues Leben erschafft. Ob das bereits ein Marketing-Ansatz sein könnte? Oder hat mich Barentsburg nun auch abwegig gemacht?

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