Auf ewig vergänglich.
Malerisch verfallene Schlösser, Burg- und Kirchenruinen, aber auch alte Fabrikgebäude, bei denen sowohl über die Arbeitsbedingungen von einst als auch über die Mauern Gras wächst, üben bei vielen von uns einen unwiderstehlichen Reiz aus.
Doch ist es nur die Melancholie, die wir daran so mögen? Ein Hang zum Morbiden? Haben wir ein romantisch verklärtes Klischee verinnerlicht, geboren aus Gespenstergeschichten, Märchen und Filmen? Oder zieht uns das von der Zeit zerstörte Mauerwerk und die in Stein gemeißelte Vergänglichkeit des Daseins aufgrund unserer eigenen Endlichkeit so erschauernd tief an? Wer weiß.
Immer währende Perfektion und ein Fortbestehen ohne Verfallsdatum sind nicht stimmig. Ein 400-jähriger restaurierter Prachtbau ist aus der Zeit herausgefallen, ist museal und modern zugleich. Wir können ihn bestaunen, werden vielleicht sein Inneres sehen und erfahren dabei dann Geschichten und Geschichtliches. Doch kein Besuch berührt so tief wie Brüchiges, Bröckelndes, Verwittertes.
Vielleicht spüren wir – im Betrachten versunken – instinktiv, dass Werden und Vergehen Leben ist. Vielleicht fühlen wir intuitiv, was wir im Grunde ja auch wissen: Es gibt kein auf immer und ewig. Kein forever young. Nichts überdauert ohne Altersspuren. Es ist zutiefst unnatürlich.
Lieber ruiniert als restauriert?
Auch wenn ich jetzt gerne abschweifen würde – ich werde nicht über Faceliftings schreiben. Und auch nicht über den menschlichen Verfall, der ja bereits mit 21 (noch unbemerkt) einsetzen soll. Zumindest habe ich das bereits vor langer Zeit gelesen. Damals erschütterte es mich. Heute finde ich es tröstlich.
Ich glaube, dass ruinierte Gebäude (und Falten) ehrlicher und wahrer sind. Es bedeutet auch, sein Leben gelebt zu haben. Erschaffen in einem Gestern, das zu Geschichte geworden ist. Sie lassen (zumindest mich) die Vergangenheit tiefer empfinden. Sie zeigen uns, dass die Zeit immer Spuren hinterlässt. Und sie machen mich neugieriger auf das, was in früheren Jahrhunderten einmal war. Nicht nur auf Fakten, die man nachlesen kann, sondern auch auf Erinnerungen, die irgendwo im eigenen Inneren schlummern. Doch vielleicht es ja auch das, was man Fantasie nennt.
Mauerreste sind ein willkommenes Baumaterial. Ruinen sind willige Bruchstücke, die man wie ein Puzzle nach Lust und Laune für sich zusammensetzen kann. Ja, und manchmal kann ich dadurch sogar den Wert des Jetzt mehr schätzen. Denn unser Heute hat sich schon morgen im Gestern verloren.
Es war einmal.
Wir wissen sofort, dass Märchen so beginnen. Obwohl das mit dem „war einmal“ nicht einmal wahr ist. Die meisten fangen völlig anders an. Doch diese unbestimmte Zeitangabe setzt etwas frei. Losgelöst von Jahreszahlen und konkreten Orten. Vor unserem inneren Auge entstehen von Efeu umschlungene Mauern, die Menschenwerk mit Natur verhüllen. Kletterrosen, die Schloss oder Burg mit ihren wehrhaften Dornen bis aufs Blut verteidigen.
Es war einmal hat etwas Heimeliges. Man kann sich wohlig hinein kuscheln und zutiefst geborgen fühlen. Selbst beim Ängstigen oder Gruseln. Man erlebt das „einmal“ mit dem Herzen. Die Gedanken sind vergessen wie das eigene Jetzt. Vielleicht würden wir sogar unsere Welt mehr mit dem Herzen betrachten, wenn wir sie ein wenig märchenhafter begreifen würden.
Es war einmal ein Deutschland, in dem die Wälder so undurchdringlich waren, dass selbst die selbstbewussten Römer sie lieber nicht in ihren robusten Sandalen betraten. Es war einmal eine Welt, die an beiden Polen von Eis bedeckt war. Man nannte das Eis damals sogar „ewig“…
Vielleicht würden wir sogar mit dem eigenen Altern
etwas liebevoller und gnädiger umgehen, wenn wir unser eigenes „es war einmal“ in ein Märchen verwandeln. Es wäre einen Versuch wert.
Jede Erinnerung ist erfunden.
Wir speichern in unserem Gedächtnis eigentlich nicht das ab, was wahr war. Erinnerungen sind nur wiederbelebte Episoden, die im Verlauf der Jahre beständig umgedeutet, umgewertet und neu gemischt werden. Sie landen dann mehr oder minder unbewusst verändert in der internen Ablage der vergangenen Tatsachen. Der Versuch einer dokumentarischen Rückschau wird daher immer haarscharf an der gewesenen Wirklichkeit vorbei schrammen. Warum dann nicht gleich ein Märchen draus machen?
Es war einmal vereint Erinnerung und Sehnsucht, Glauben, Hoffnung, Ängste. Unvollständig und unbestimmt in Zeit und Raum. Drei kleine Worte schenken uns die Freiheit, die ge- und erlebte Realität neu zu deuten. Und vielleicht gewinnen so die eh verwitterten Reste von Anno Dazumal eine Art Wiedergeburt als märchenhafte Biografie-Fragmente.
Ein lebendiges Märchen.
Märchenhaftes Betrachten negiert keine vergangene Realität; sie macht sie nur fühlbarer, nahbarer. Es steckt voller Wunder, wird von Fluch und erlösendem Zauber geprägt und verändert die Wahr-Nehmung. Das ist was anderes als frei erfunden.
Für mich ist fast jeder englische Landschaftspark ein Märchen, in dem man spazieren gehen kann. In Erinnerung und Sehnsucht verwurzelt. Ein Gemälde unter freiem Himmel. Der Versuch, das eigentliche Wesen der Natur zu überhöhen und zu verherrlichen.
Als man diese Landschaften erfand, konnte man die Diktatur der Gartenscheren und Lineale nicht mehr ertragen. Zu viel Fürstenwille, zu viel Macht den Beherrschenden. So wich die akkurat-barocke Künstlichkeit einer künstlichen Natürlichkeit, einer idealisierten Schönheit. Da hat man dann sogar Ruinen neu erbaut. Selbstverständlich in wohl durchdachter bester Lage, als präzise komponiertes Gesamtkunstwerk aus Landschaft, Grün und Stein. Irgendetwas muss uns daher am Unvollständigen faszinieren, da wir es so liebend gerne inszenieren.
Daher zurück auf Anfang: Ich liebe Burg- und Kirchenruinen und von Verfall gezeichnete Schlösser. Und wir brauchen mehr Märchenhaftes in unserem Leben und in unserer Welt.
Und wenn sie nicht gestorben sind…
… dann leben sie noch heute. Dieser berühmte letzte Satz hat mich bereits als Kind irritiert. Eine ganze Geschichte lang erzählte man mir alles haargenau, jedes noch so kleine Detail war bekannt. Doch dann war urplötzlich alles vorbei. Hatte der Schreiberling keine Ideen mehr? Wussten die Gebrüder und all die anderen wirklich nicht, ob sie noch leben? Damals hat man meine Fragen abgewiegelt, mir keine Antwort geben können. Oder wollen.
Zugegeben, es gibt Fragen, die die Welt nicht braucht. Aber es macht Spaß, sie sich zu stellen: Sind Prinz und Prinzessin auch noch als Königspaar glücklich? Oder bereits geschieden, zerstritten, verbittert? Haben sie Kinder, Enkel, eine Groß- oder Kleinfamilie?
Und was ist mit ihrem Schloss? Wie ist die Bausubstanz? Können sie den Erhalt finanzieren? Oder wurde das herrschaftliche Liebesnest zur Event Location umgemodelt? Haben ihre märchenhaften Ur-Ur-Enkel jetzt ein Hotel, in dem Gespenster ihr Unwesen treiben? Und sei es nur als Vermarktungsidee? Oder stehen sie am Ticketschalter und führen Touristen durch die ehrwürdigen Hallen ihrer Ahnen?
Welche Frisur trägt Rapunzel heute? Hat König Drosselbart mittlerweile ein hippes Bärtchen? Musste Rotkäppchen zum Psychotherapeuten? Und wenn ja, konnte man ihr helfen? Trainiert sie Welpen und mehr noch ihre Besitzer, wurde sie eine engagierte Tierschützerin oder hat sie Biologie studiert und freut sich über die Rückkehr der Wölfe?
Wirft der ehemalige Frosch immer noch seiner Prinzessin vor, dass sie ihn nicht gleich erkannt hat? Oder sie ihm, dass er immer noch allzu schnell von dannen hopst, wenn es etwas zu besprechen gibt? Und er bei Problemen nur quaken kann?
Ein vages Morgen.
Es gibt so viele Fragen, die Märchen aufwerfen. Die Antworten können wir uns nur selbst geben. Doch eine ungeklärte Zukunft, ein vages Morgen, eine Geschichte, die sich im Ungewissen verliert, ist im Grunde ja nicht einmal märchenhaft. All das ist real und bestimmt den Lauf der Welt und unser eigenes Leben. Wir könnten daher auch unsere Zukunft im Stil eines Märchens gedanklich weiter führen. Und – wer weiß – vielleicht würden wir dadurch Impulse bekommen, die zu Problemlösungen und zu konkreten Handlungen führen, die wir uns jetzt nicht einmal vorstellen können. Am besten vielleicht im Angesicht von schönen Ruinen.
Ob ab einem gewissen Alter auch ein Blick in den Spiegel genügt? Ich sollte es mal versuchen…
Copyright Text und alle Fotos by Petra Clamer