
Südafrika – sehr schön, aber…
Ich hörte es so häufig: Wie schön doch die Waterfront in Kapstadt sei. Wie großartig die Küsten-Vielfalt. Wie spannend am südlichsten Punkt des Kontinents, am Kap der Guten Hoffnung, zu stehen. Wie einladend für Spiel und Spaß die herrlich langen Strände von Durban. Ganz zu schweigen von all den grandiosen Landschaften allüberall. Und wie toll es doch wäre, so viele wilde Tiere in so kurzer Zeit zu sehen. Auch jenseits des Krüger-Nationalparks.
Man kann noch mehr wilde Tiere in noch kürzerer Zeit sehen. Das nennt man dann Zoo. Da werden die Tiere auch hinter Zäunen gehalten. Nur die Gehege sind kleiner. Ja, die Küsten sind beeindruckend, die Wellen hoch, die Strände lang. Und da Dank der Hainetze vor Durbans Küste das schwimmende Großgetier auch außen vor bleibt, kann man sich unbesorgt in die warmen Fluten stürzen. Der südlichste Punkt Afrikas ist woanders als erhofft. Aber so ist das ja manchmal mit der Hoffnung. Sie kann auch zu guter Letzt an einem Kap sterben.
Ja, die V&A Waterfront hat mir auch richtig gut gefallen. Zum Shoppen und Flanieren, zum Verweilen, lecker essen und Menschen gucken. Zumeist Touristen. Doch dieses aufgehübschte alte Hafenviertel, gewürzt mit einer Prise Kolonialflair und mit ein wenig Lokalkolorit garniert, könnte auch irgendwo sein. Es entspricht einem globalisierten Schönheitsideal und kultiviert vermutlich den größten gemeinsamen Nenner aller Reiseansprüche von heute: eine sichere, heile Konsum-Welt. Reisekassen jeder Fülle werden hier fündig. Was will man mehr? Will man mehr?
Ich schien es irgendwie zu wollen. Irgendetwas fehlte mir. Bei jeder Schwärmerei der anderen, schlich sich in mir immer nur ein Wort in den Sinn: "aber". Wo war sie, diese Faszination, die Südafrika zum Auswanderer- und Urlaubstraum werden lässt? Warum fühlte ich sie nicht?
The sunny side of German winter.
Irgendetwas ließ mich in diesem Südland nicht ganz auftauen, geschweige denn so richtig mit ihm warm werden. Obwohl die Sonne schön sommerlich schien und ich aus einem trüben Winter kam. Obwohl das „you’re welcome“ nur selten wie eine perfekt einstudierte Floskel wirkte. Und obwohl ich mich auf den ersten Blick in die sanften Augen der Kudus verliebte und viele wilde Tiere sah. Doch irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste nur nicht was.
Es waren nicht die Townships, die man durchaus als bedrückend empfinden kann. Doch da man sie ja mittlerweile bereits als Ausflugsziel buchen kann, werden sie schon fast zur Touristen-Attraktion für kritische Geister. Die allgegenwärtige Armut ein Geheimtipp, als Nicht-Hochglanz-Welt vermarktet.
Es waren auch nicht die Haupteinkaufsstraßen in den Kleinstädten, in denen man nirgendwo verweilen kann, und die man als Weißer keinesfalls im Stöber- und Schlendergang erbummelt, sondern ausschließlich er-fährt. Auch ich fahre schließlich zu Hause gerne und viel zu häufig direkt mit dem Auto vor.
Es waren auch nicht all die anderen Jeeps, die sich am Wasserloch sammelten, damit jeder Warzenschwein, Flusspferd, Nashorn, Antilope oder Giraffe sehen, filmen oder fotografieren kann. Das nahm ich alles so hin, weil es ja wohl anders nicht ging.
Doch was war es dann? Fehlte mir ein Platz, von dem aus ich das einheimische Leben beobachten konnte? Die Nähe, die hier überall auf Distanz ging? War es das Gefühl nie mittendrin im südafrikanischen Leben zu sein, sondern immer nur irgendwie dabei? Wo oder was ist überhaupt südafrikanisches Leben? Oder vielleicht „nur“ südafrikanisches Lebensgefühl?
Überfragt statt glücklich.
Ich sah in zutiefst glückliche Gesichter, die mir erzählten, dass sie süße, kleine Löwen gestreichelt haben. Ich dachte nur „Oh, je!“ Denn die meisten dieser wilden Kuscheltiere landen irgendwann vor der Flinte eines Großwildjägers. Zu zahm für ihre angestammte Welt, zu gefährlich für ein Weiterleben mit Menschen. War ich zum Schwarzseher geworden? Oder sind die meisten von uns so sehr vom Ursprünglichen entfremdet, dass sie es gar nicht mehr als solches wahrnehmen? Wäre hier nicht eine gesunde rationale Distanz angebrachter gewesen als hochemotionales Glück? Zumindest gesünder für das unschuldige Löwenkind?
Ich verwirrte mich mit Fragen. Alles war so widersprüchlich. Vieles erschien mir künstlich, kulissenhaft. Und zu allem Überfluss wurde ich auch immer wieder davor gewarnt, die touristisch vorzeigbaren Ecken und Enden zu verlassen. Von Menschen in allen Hautfarben. Durfte ich nur in einem Südafrika sein, das man mir zeigen wollte? Kann man Südafrika nur oberflächlich bereisen? Gibt es in Südafrika nie ein richtiges Ankommen?
Das Eigene, ein unerfühltes Wesen?
Die Antwort traf mich unerwartet in der Weinregion. Niedlich-schmucke Häuschen im niederländischen Stil, gepflegt-grüne Weinberge, bunt-grüne Gartenanlagen. Alles super gepflegt, von Besuchern belebt, mehr Holland als in Holland. Und dann das Warnschild vor Pavianen. Plötzlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf und blieb im Herzen stecken. Ich schaute mich noch einmal um, fühlte noch mal nach und mir wurde klar:
Es waren all die Zäune, die Mauern, das Ausgrenzen und Abgrenzen, das Grundgrummeln im Angesicht einer zutiefst properen heil erscheinenden Welt, in der Paviane die künstlich erschaffene Idylle stören können. Weil sie Natur sind. Hier zu Hause.
Vor der Besiedlung durch die Europäer gab es am Fuße des Tafelbergs Löwen, Zebras und Kudus. Für all die Menschen, die hier lebten, war das normal. Alltag eben. Doch die Europäer verjagten Menschen, Tiere und Afrika. Alles, was fremd war, wurde unterworfen, zu einem Sein zweiter Klasse degradiert. Alles, was nicht nach zurück gelassener Heimat wirkte, wurde heimatlich gemacht. Koste es, was es wolle. Auch wenn es an Härten kaum auszuhalten war. Und es auf Kosten derer geschah, deren gelebte Realität man dadurch so zerstörte, das sie zu Fremden im eigenen Land wurden: Menschen, Kulturen, Tiere, Pflanzen.
Heimat, auf Zerstörung erbaut.
Ich weiß nicht, ob der Aufbau einer neuen Heimat, die zuerst das Vorhandene mit aller Macht zerstört, typisch menschlich ist oder Ausdruck einer kolonialzeitlichen Selbstherrlichkeit, die sich mit der Zeit verinnerlicht und verselbstständigt. Für mich fühlte es sich auf jeden Fall so an, als ob man die zurückgelassene (europäische) Realität zu einer erstrebenswerten (afrikanischen) Zukunft erklärt hätte. Das Fremde so verfremdet, dass eine Illusion des Vertrauten entsteht, die man bewahren, hätscheln, schützen und hüten muss.
Vielleicht liegen hier im Süden von Afrika Realität und Illusion dichter zusammen als sonst irgendwo. Vielleicht ist hier der Nährboden für Zukunft gestalten nicht der Traum von einer besseren, schöneren, gemeinsamen Welt, sondern irgendwie nach wie vor der Wunsch, eine Erinnerung zu bewahren. Eine, die schon längst verblasst ist, verwirbelt durch die Stürme der Geschichte.
Wie kann man gemeinsame Perspektiven entwickeln, wenn der Blick nach vorn durch den Blick zurück ein völlig anderes Bild ergibt? Man kann und darf völlig konträr erlebte Vergangenheiten und unterschiedliche Identitäten nicht wegdiskutieren, nicht einfach so vergessen. Doch geht Bewahren und Neues wagen irgendwann und irgendwie zusammen?
Was blüht, wenn Illusionen Wurzeln schlagen?
Ich weiß nicht, ob man Afrika nach wie vor aussperren möchte oder sich selbst einsperren. Ich weiß nicht, ob man sich vor den wilden Tieren schützen oder sie vor uns Menschen schützen will. Höchstwahrscheinlich will man beides. Und das von Weißen geprägte Südafrika scheint für viele Nicht-Weiße weder zugänglich noch erstrebenswert zu sein, was dazu führt, dass man sich ebenfalls abschottet. Am liebsten unter sich bleibt.
Doch was macht das mit uns Menschen? Kann man sich frei fühlen, wenn man ohne Aus- und Einschließen nicht leben kann oder will? Wenn man bereits mit der Muttermilch einsaugt, dass Abgrenzen normal ist. Gleichgültig an welcher Brust man liegt und welche Farbe sie hat? Wird man ein anderer, wenn Ausgrenzen und Abgrenzen gelebter Alltag ist?
Apartheid soll ein niederländisches Wort sein und so viel wie Trennung bedeuten. Ich glaube, ich habe diese Trennung gespürt. Obwohl offiziell abgeschafft, war das Trennende mein ständiger Begleiter, hielt mich auf Abstand, meine Gefühle auf Distanz, ließ mich das Schöne und Faszinierende nie in erfüllter Tiefe empfinden.
Vielleicht habe ich daher das Eigene in Südafrika von Anfang an gespürt, ohne zu wissen, dass es sein Wesen war: Mauern, Grenzen und Zäune beginnen im Inneren bevor man sie im Außen baut. Und dahinter verstecken sich viele verletzte Seelen, die man so zu schützen glaubt.
Aber wer weiß. Vielleicht hatte ich ja auch nur einen schlechten Tag, der viele Tage lang war.