5. Juli 2020
Odysseus und die Sea Cloud
Es war einmal in der Ägäis. Und alles so, wie man es sich wünscht: ein blauer Himmel, ein blaues Meer, weiße Segel und eine frische Brise Wind. Unterwegs auf einem Windjammer, in den man sich spätestens beim ersten Schritt auf seinen Planken verliebt: die Sea Cloud. Über die Sea Cloud zu schreiben, erfordert einen Poeten. Auf ihr zu reisen, erweckt selbst in den überzeugtesten Realisten romantische Seelen. Und mit ihr im Reich des Poseidon zu sein, bedeutete für mich: auf einer Legende in der Welt der Sagen zu kreuzen.
Manchmal schaute ich nur auf den Horizont, an dem sich die Grenzen zwischen Himmel und Meer verwischten wie Wirklichkeit und Fantasie in einem Traum. Alltagsgedanken versanken in den Wellentälern. Die Wogen glätteten die angeraute Seele. Und die Gefühle hatten Zeit sich zu vertiefen. Das „Leinen los“ kannte keine Wehmut. In jedem Abschied fühlte ich nur den Anfang. Und davon gab es zum Glück viele…
Ich saß auf meinem Lieblingsplatz gleich neben der Brücke, schaute der Mannschaft beim Klettern zu und dem Kapitän am Steuerrad. Und dann ging es los:
Ich dachte an Ariadne und ihren langen Faden (langes Fädchen, faules Mädchen?), an Prometheus und sein lebenslanges Leberleiden, an Achill, Helena, Paris und an einige andere Frau- und Herrschaften der Illias. Bei Odysseus blieb ich hängen. Ihm war ja der betrogene Ehemann Menelaos und seine entflohene liebestolle Gemahlin schnurz-piep-egal gewesen. Sollte sie doch in den Armen von Paris ihr neues Glück finden. Was ging das ihn an? Doch Männerbündnisse sind Männerbündnisse und so zwang man ihn mit in den Krieg zu ziehn. Voll genervt vom Hin und Her vor Troja, hatte er dann die Idee mit dem Pferd. Einfach genial. Danach war alles easy. Troja wurde zerstört und für ihn begann – ja was eigentlich?
Ich hörte die markanten Kommandos des Kapitäns. Ich blickte auf geblähte Segel. Sehnsüchtig in die Ferne und stellte mir dabei einen frustrierten, klug-königlichen Seemann vor…
Ich glaube, es war alles ganz anders.
Odysseus blickte auf geblähte Segel. Sehnsüchtig in die Ferne, stellte sich seinem Frust und vielen Fragen. Sein Leben hatte den Sinn verloren. Sein langjähriges Tun erschien ihm hohl. Und dieses Morden und Schlachten vor und hinter Trojas Mauern war auch zu viel des Un-Guten. Er wollte abhauen, ausbrechen; Neues, Schöneres entdecken. Und sei es auch nur für ein paar Jahre. Doch so einfach war das nicht.
Wie sollte er später erklären, dass er einfach nur weg wollte? Ohne den Thron und den Familienfrieden zu riskieren. Wie könnte er es deichseln, dass er den Weg nach Hause nicht fand? Glaubwürdig und nicht als nautischer Versager. Wer oder was konnte ihm die (vermeintlich) zutiefst ersehnte Heimkehr so schwer machen? Plötzlich war er da, der göttliche Funke. Es konnten nur die Götter sein. Gegen Götter war er machtlos. Und die Unschuld selbst. Doch würde man ihm glauben? Immerhin hatte er ja auch die Trojaner perfekt getäuscht…
Was er wirklich erlebt hatte, musste er natürlich bei seiner Rückkehr verschweigen. Warum er zum Aussteiger wurde, durfte er selbstverständlich niemandem sagen. Er ersann daher eine dramatische Geschichte, der listenreiche, schlaue Fuchs.
Ich glaube, es war so:
Odysseus sprach nie über das Kribbeln bei seinem Aufbruch. Er verlor nie ein Wort über seine Sehnsucht. Nie war die Rede vom herrlichen Auf- und Davon-Segeln in die unbekannte Ferne. Dafür erfand er Scylla und Charyptis und den Zyklopen, die ihn alle lebensgefährlich bedrohten, ihn herausforderten und aufhielten. Er erzählte von den betörenden Sirenen, der bösen Zauberin Zirze und dem holden Mädchen Nausikaa. Und während er über sie sprach, dachte er an all die Stunden am Strand und an sein Vergnügen unter Dattelpalmen. So ging’s. So konnte er den Zauber seiner Erinnerungen aufs Wunderbarste mit unverschämtem Lügen verbinden – ohne Kratzer am Image. Er spann das erste Seemannsgarn der Geschichte. Mit seinem heldenhaften Widerstand gegen den Willen höherer Mächte setzte er sich sogar ein Denkmal. Klar, dass Odysseus das hinbekam. Wer, wenn nicht er?!
Das erste Seemannsgarn der Geschichte.
Seine 10-jährige Sinnsuche nannte man Odyssee und wurde durch Homer zur griechischen Sage. Sein Sabbatical beschäftigt seitdem Philologen, Archäologen, Historiker und ganze Schülergenerationen. Wissenschaftler suchen seinen vermeintlichen Seeweg sowie die Orte seines Landgangs. Sie versuchen sogar all die Fantasiegestalten, denen er begegnete, in ne geschichtlich-reale Schublade zu stecken. Wie verrückt ist das denn? Odysseus würde sich schlapp lachen!
Manchen erzählt der Wind ein Lied. Mir hat er die Geschichte hinter der Geschichte des Mannes aus Ithaka erzählt. Doch vielleicht war es auch die Sea Cloud, die mir im Fahrwasser der Antike den Blick hinter die Fassade einer Sage schenkte. Denn auch sie ist mit allen Wassern gewaschen und wurde schon von so manchem fantasiebegabten Kapitän kreuz und quer übers Meer geführt. Einer von ihnen sah bei Sonnenaufgang häufig wunderschöne Nixen, die im Bugspriet sitzen…