
An einer Stelle wurde es damals jedoch richtig eng – im wahren Sinn des Wortes. Dort, wo bereits unzählige Schiffe verunglückt und unzählige Schiffer ertrunken waren: an einer Flussschleife um einen Felsen. Sein Name: der Lorelei. Da musste man höllisch aufpassen. Das war die gefährlichste Stelle des Mittelrheintals. Dass aber die eigentliche Gefahr der Gegend eine männermordende Blondine war, wusste man noch nicht. Man ahnte es nicht einmal.
1824 entdeckte Heinrich Heine die Lore-lei-Geschichte für sich. Eine Geschichte, gerade mal 23 Jahre alt, wurde in uralte Zeiten verlegt, und die tragische Heldin wurde vom Opfer zur Täterin. Tja, so kann’s kommen…
Ein Rollentausch und schon geht's ab und abwärts.
Die neue Loreley, die außer Singen und Kämmen nichts konnte (was auch heute noch locker zum Berühmtwerden reichen kann), mutierte nun zur femme fatale. Sie kämmte ihre lange, blonde Mähne. Sie trällerte so vor sich hin. Sie war jung. Sie war hübsch, und um die Männer war’s geschehen. Sie ließen sich von ihr gnadenlos den Kopf verdrehen, die Armen. Sie schauten nur noch gebannt zu ihrem Hochsitz hoch, achteten nicht mehr auf Stromschnellen, Untiefen, Klippen, sich dramatisch nähernde Ufer – also auf das Wesentliche – gingen ihr arglos auf den Leim und in Folge im Fluss unter.
Vor diesem Hintergrund bekommt Heines erste Gedicht-Zeile „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, einen durchaus bemerkenswerten neuen Sinn. Vielleicht sogar für Feministinnen.
Sein Gedicht – ja eigentlich ein Remake mit vertauschten Rollen – kam deutlich besser beim Publikum an. Das war klasse und gefiel – auch einem Komponisten. Er erschuf sogleich eine wehmütige Melodei. Als gutes, altes Volkslied stürmte es von jetzt auf sofort die noch nicht vorhandene deutsche Hitparade, eroberte dann den Weltmarkt und machte Frau und Felsen so richtig berühmt. Und grusel-herrlich berüchtigt.
Zuerst flussaufwärts, dann flussabwärts: Loreley voraus!
Nun war nicht mehr der Felsen der Lorelei, sondern er wurde zum Sitzplatz für die Loreley. Ab den 1840ern gehörten dann das ungleiche Namenspaar unzertrennlich zusammen und sind seitdem der Höhepunkt einer jeden Rheinreise.
Mittlerweile ist der Rhein an dieser Kurve zwar noch recht eng, aber nicht mehr von Natur aus gefährlich. Den Loreley-Felsen erkennt man in erster Linie daran, dass er einer der wenigen ist, der von keiner Burg gekrönt wird. Und bei einer Flussfahrt sollte man den Blick nicht nach oben, sondern nach unten richten. Denn da sitzt eine recht modern anmutende Statue, die die Loreley ganz nackig zeigt.
Heutzutage werden auch alle paar Jahre neue Loreleyen gewählt. Sie müssen weder naturblond sein noch müssen sie trällern können. Ein beglaubigtes Zertifikat für männermordende Aktivitäten ist nicht einmal wünschenswert. Gute Fremdsprachenkenntnisse allerdings schon.
Sollte man dann vielleicht ein neues Loreley-Gedicht schreiben? Ich überleg es mir mal…