26. April 2020
Fotos & Text: Copyright by Petra Clamer

Rhein-Romantik ein Reinfall?

Vor über 200 Jahren entstand ein neues Lebensgefühl und eine neue Weltsicht: die Romantik. Eine Seelenepidemie, die als Parallelwelt zur Aufklärung und als Gegenbewegung zur Industrialisierung entstand. Das Emotionale, Ursprüngliche und Magische wurden zu Weg und Ziel. Maler, Komponisten, Schriftsteller, ja selbst Polit-Philosophen wurden infiziert. Und inspiriert.  

Berühmte und unbekannte Romantiker und Romantikerinnen entflohen ihrer alltäglichen Realität, überhöhten das Natürliche ins Übernatürliche und sehn-suchten das Beseelte. In sich selbst und im Außen. Man erschauerte an den Kreidefelsen auf Rügen. Man wurde zutiefst melancholisch bei Kirchen-, Schloss- und Burg-Ruinen. Am schaurig-schönsten, wenn sie gotisch waren. Doch vor allem schwärmte man wie von Sinnen vom und am Rhein. Genauer: im heutigen UNESCO-Weltkultur- und Naturerbe Oberes Mittelrheintal, also an rund 65 Flusskilometern zwischen Bingen und Koblenz.

Das Zeitalter der Romantik endete irgendwann in den 1880ern. Der Rhein blieb. Wenn auch begradigt, Ufer verstärkt, vertieft und Klippen bereinigt. Die Rhein-Romantik auch. So sagt man jedenfalls. Doch kann man das glauben? 

Hat am Rhein überlebt, was im Kern romantisch war?

Romantiker suchen die Einsamkeit, maximal die Zweisamkeit. Romantiker sind empfindsame Seelen. Sie lieben das Geheimnisvolle, das Phantastische und sehnen sich nach einer Entgrenzung des Ichs. Tja, und schon wird’s eng... 
An bildschönen Aussichtspunkten und in schmalen Gassen wird man massiv begrenzt. Da drängeln sich einfach zu viele Ichs. Wer den beseelten Fluchtpunkt vor der Realität finden möchte, braucht jede Menge Schoppenweine. Auf dem Rhein gibt's keine Flößer mehr, keine kleinen Fischerboote aus Holz so wie um 1850, dafür Frachter und jede Menge Ausflugsschiffe. Und die Züge, die das enge Flusstal durchjagen, übertönen das Gezwitscher der Vögel. Bei all diesem Geschubse, Gedrängel und Getöse kann man zwar schnell schwermütig werden, jedoch nicht im Sinne der Romantik. Da hilft auch kein Abendessen bei Kerzenschein.

Ich gebe es zu: Ich wurde im Angesicht der Rhein-Romantik zum Realisten. „Wie ertragen die Anwohner den Bahnlärm?“ „Was kaufen Touristen bei einem Bummel durch Rüdesheim?“ „Wird der Kitsch allüberall eigentlich in China oder Korea produziert?“ 

Ja, die Rebterrassen sind noch da. Auch die Burgen und Burgruinen stehen noch. Sogar mehr als um 1800. Denn man baute sie gerne um und neu – in neogotisch und deutlich perfekter als echtes Mittelalter. Doch reichen bildschöne Kulissen um romantisch zu empfinden? Wenn man zuerst viel Wegdenken muss, bevor man etwas Dazufühlen kann? 
Idylle fand ich hier und da. Vieles war ganz nett und adrett. Manches auch richtig schön. Doch die Romantik blieb auf der Strecke – über 65 Kilometer lang. Entzaubert sah ich der Wahrheit ins Auge und sehnte mich nach irgendetwas, was ich romantisch verklären konnte. Und was geschah? Es geschah ein Wunder: 

Die Romantik fand mich. 

Wesenheiten aus einer anderen Welt gibt es wirklich am Rhein. Allerdings vor und nach dem berühmten Stromabschnitt. Futuristische „Was auch immer“ säumen seine Ufer. Fabeltiere aus Metall und Beton scheinen nur auf ihre romantische Verklärung zu warten. 
Filigrane Strommasten, Stahlträger, schlanke Schlote, ja ganze Industrieanlagen können unfassbar viel Magie entfalten. Das war mir neu. Das hätte ich nicht vermutet. 

Die Romantiker von einst veränderten ja eigentlich auch nur ihren Blickwinkel auf die Welt. Das geht heute so wie damals. Dramatische Lichtstimmungen und eine untergehende Sonne haben dabei zu allen Zeiten gute Dienste geleistet. Mir daher auch. 
Die Industrie am Rhein ist vielerorts unübersehbar und übermächtig. Sie prägt zwar viele Ufer, ist Geschichte und Kultur, wird jedoch in Reiseführern gerne verschwiegen und werblich ungern ausgelobt. Schade eigentlich. 

Eine kleine Auswahl meiner Fotos zum Thema "Industrie-Romantik" sind doch eigentlich ein sichtbarer Beweis, dass es auch anders gehen würde. Oder etwa nicht?

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